GlycoRec – Interaktives Bio-Life-Logging für einen verständlicheren Umgang mit Diabetes
Diabetikern im Alltag zu helfen, komplexe Entscheidungen zu treffen und Vorsätze tatsächlich umzusetzen – das ist das Ziel des Forschungsprojektes "GlycoRec". Dabei handelt es sich um ein adaptives, lernendes System, auch interaktives Bio-Life-Logging genannt. Die Koordinationsstelle des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit 1,4 Millionen Euro geförderten Projektes befindet sich an der PFH Privaten Hochschule Göttingen im Bereich Wirtschaftspsychologie. Weitere Projektpartner sind das Unternehmen Emperra E-Health Technologies aus Potsdam, das L3S Forschungszentrum an der Leibniz-Universität Hannover, die Ostbayerische Technische Hochschule Amberg-Weiden sowie das Deutsche Diabetes Zentrum. Das Projekt wurde Ende März 2018 erfolgreich abgeschlossen.
Ausgangssituation
Diabetes ist die weltweit häufigste chronische Stoffwechselerkrankung. Etwa 8 % der Bevölkerung in Deutschland ist an Diabetes Mellitus erkrankt und es ist mit einer weiteren Zunahme zu rechnen. Diabetes ist bereits einer der häufigsten Beratungsanlässe in allgemeinmedizinischen Praxen und in absehbarer Zeit wird der Beratungsbedarf wegen steigender Fallzahlen nicht mehr zu decken sein. Gleichzeitig ist es wichtig, dass Patienten sich richtig verhalten, um Folgeerkrankungen zu vermeiden. Die Altersgruppe 60+ ist am häufigsten betroffen; jeder vierte 80-Jährige in Deutschland leidet an Typ-2-Diabetes.
Patienten, die an Diabetes erkrankt sind, müssen täglich viele Entscheidungen fällen wie z.B.: Darf ich das essen? Welches Produkt soll ich kaufen? Bin ich gerade unterzuckert? Was kann ich tun, um den Blutzuckerspiegel wieder zu senken? Wieviel Insulin muss ich nehmen? Gerade ältere Patienten und solche, die erst vor kurzer Zeit diagnostiziert wurden, sind da schnell überfordert.
Ziele und Vorgehen
Ziel des GlycoRec-Projektes war es, ein tele-medizinisches System zu entwickeln, welches eine erweiterbare, integrierte Infrastruktur aus Sensorik, Modellierung und Patienteninteraktion zur Verfügung stellt, die es erlaubt, Diabetespatienten individuell im Alltag zu unterstützen. Aus Nutzersicht sind die Ziele folgendermaßen definiert:
Gesundes Leben
Patienten motivieren, einen gesunden Lebensstil zu führen (ausgewogene Ernährung, regelmäßige Bewegung).
Tagebuch führen
Patienten eine zentrale Dokumentations-Hilfe geben, um die einfache Führung eines lückenlosen Diabetes-Tagebuchs zu ermöglichen.
Informieren
Patienten über Diabetes informieren und zu Experten machen, wie der eigene Körper auf die Diabetes-Erkrankung und die Behandlung reagiert.
Blutzucker stabil halten
Patienten helfen, ihren Blutzuckerspiegel stabil zu halten. Das GlycoRec-System errechnet eine Blutzuckerprognose, die auf den erfassten Daten basiert. Das System lernt, das für die Prognose benutzte Blutzuckermodell an den Patienten individuell anzupassen.
Über einen Zeitraum von drei Jahren wurde im Projekt GlycoRec untersucht, wie Betroffene im Alltag besser unterstützt werden können. Im Sinne der Ziele des BMBF-Programms „Adaptive Lernende Systeme“ wurde dabei ein lernendes System entwickelt, welches die Bedürfnisse und Handlungen von Patienten in ihrem Behandlungskontext interpretiert und sich auf die Eigenheiten der Nutzer einstellt. Dabei wurde beachtet die Autonomie des Users nicht einzuschränken. Die Entwicklung berücksichtigte ethische, juristische und sozialwissenschaftliche (ELSI) Aspekte, die im Laufe des Projektes identifiziert und anhand eines Leitfadens gesammelt wurden. Diabetes-Patienten wurden, von Anfang an, in den Entwicklungsprozess mit eingebunden, durch zahlreiche Befragungen, Interviews, User-Tests und Fokus Gruppen.
Glycorec betrat in mehrfacher Hinsicht Neuland bei der Entwicklung innovativer Methoden und Systeme:
Verknüpfung medizinischer Daten und Kontextdaten für Alltagsentscheidungen
Medizinische Expertensysteme und telemedizinische Maßnahmen sind meist auf rein physiologische Daten beschränkt. Durch bio-life-logging, also die kontinuierliche Sammlung und Analyse zusätzlicher Daten, die die Lebenssituation der Patienten beschreiben, entstehen in GlycoRec grundsätzlich neue Möglichkeiten, auf die individuelle Situation des einzelnen Patienten einzugehen und gemeinsam in interaktiven Beratungsdialogen angepasste Problemlösungen und Entscheidungen zu entwickeln.
Facettenreiches Benutzermodell für höhere Fehlertoleranz
Der Einsatz umfangreicherer Sensorik erlaubt eine sehr viel facettenreichere und vollständigere Modellierung des Benutzers und der Umgebung als Ereignisse im Kontext als in den meisten adaptiven Systemen üblich. Insbesondere die kontinuierliche Messung über längere Zeiträume bietet neue Möglichkeiten der Kompensation, Fehlerrobustheit und Fehlertoleranz in der Benutzermodellierung
Individualisierte interaktive Rückmeldung an Patienten
Die Modellierung der Patienten und der Umgebung bietet erstmals die Möglichkeit einer individualisierten Rückmeldung an den Patienten und Unterstützung in Lebensbereichen die von Diabetesberatern und Ärzten nicht abgedeckt werden können.
Nutzung von Benutzermodellierungsmethoden im medizinischen Anwendungsfeld
Die langfristige Benutzermodellierung von Diabetespatienten stellt ein neuartiges Anwendungsfeld etablierter Methoden dar. Die Erfassung des Kontexts und die Individualisierung der Beratung versprechen einen großen Mehrwert in der Therapie und der Lebensqualität der Patienten.
Beachtung ethischer, legaler und sozialer Aspekte in der Entwicklung
GlycoRec agiert therapiebegleitend statt selbst therapeutisch aktiv zu sein. Empfehlungen und Hinweise sind bewusst zurückhaltend formuliert.
Das Ziel dieses Vorgehens ist durch ein gewisses Maß an Eigenverantwortlichkeit gleichzeitig den Grad der Aufmerksamkeit und die Sensibilität im Umgang mit dem GlycoRec-System auf Seiten der Anwendungsnutzenden selbst zu befördern.
Plattformübergreifende Interaktionen für situationsgerechte Anpassung
GlycoRec integriert sich nahtlos in den Alltag der Patienten. Dazu gehört, dass die vernetzte Sensorik in den Hintergrund tritt und alltagsnah über drei verschiedene Plattformen mit GlycoRec interagieren kann. Die Smart-Watch kann jederzeit getragen werden. Smartphone und Smart TV sind besonders intuitiv und erlauben gerade älteren Patienten einen persönlichen Dialog.
Konzept von GlycoRec
Das Projekt GlycoRec untersucht, wie Betroffene im Alltag besser unterstützt werden können. Durch kontinuierliche Sammlung, Speicherung, Aufbereitung und Analyse physiologischer Daten und Umgebungsdaten werden individuelle Benutzermodelle und Kontextmodelle generiert, die es erlauben, sehr viel genauere Prognosen und individuelle Empfehlungen für die Patientin bzw. den Patienten zu entwickeln. GlycoRec stellt eine erweiterbare, integrierte Infrastruktur aus Sensorik, Modellierung und Patienteninteraktion zur Verfügung.
Drei Benutzerschnittstellen auf den Interaktionsplattformen Smartphone, Smart-Watch und Smart-TV helfen Benutzern bei der Problemlösung in der Diabetesbehandlung.
Die unterschiedlichen Datenströme werden ausgewertet und analysiert, um individuelle Muster im Verhalten und in der physischen Reaktion, Abweichung von Normalzuständen und besondere Ereignisse zu erkennen und Prognosen für weitere Entwicklungen des Blutzuckerspiegels zu erstellen.
Diabetes-Tagebuch führen
Abhilfe schafft GlycoRec indem es automatisch Patientendaten erfasst: Blutzuckerwerte werden vom Messgerät an das GlyoRec-System übertragen, ebenso verhält es sich mit den Verabreichungen aus dem Insulin-Pen. Ein Schrittzähler erfasst die Gehbewegungen. Und ihre Kohlenhydratmengen können die Patienten über das Smartphone mithilfe einer umfangreichen Mahlzeiten-Datenbank leicht eingeben.
Blutzucker stabil halten
Ein Blutzuckermodellierungssystem nutzt die gesammelten Daten, um die Entwicklung des Blutzuckerwertes zu berechnen. Dies wird als Vorhersage im Blutzucker-Chart visuell dargestellt. Der Patient erhält personalisierte und kontextabhängige Empfehlungen sowie Warnungen um Notfällen entgegen wirken zu können. Die Blutzucker-Vorhersage passt sich im Laufe der Zeit an den Benutzer an und wird so immer genauer.
Ernährung planen
Eine integrierte Mahlzeiten Datenbank hilft dabei, Kohlenhydrate zu schätzen und die Insulinmenge zu berechnen. Die Datenbank enthält Daten des Bundeslebensmittelschlüssels, Durchschnitts-Rezepte und von Patienten selbst angelegte Mahlzeiten. Bei ungewöhnlichen Insulin-Eingaben reagiert das System und gibt eine Benachrichtigung aus, um dem Benutzer Feedback zu geben
Therapie optimieren
Die Daten werden in übersichtlichen Charts aufbereitet, so dass Zusammenhänge leicht erkannt werden können. Die Einsicht in aktuelle Daten und Trends ist auf einem Smartphone oder einer Smart-TV-Anlage möglich. Eine “Tipps & Infos”-Funktion stellt dem Patienten zusätzliche Informationen aus relevanten Themenbereichen (z.B. Ernährung, Blutzucker-Effekte, Leben mit Diabetes) zur Verfügung.
Ausblick
Im nächsten Schritt treibt die Emperra GmbH das Projekt nun weiter bis zur Marktreife voran. Mit der Übergabe an den Mittelständler entsprechen wir den Vorgaben des BMBF als Förderer. Das Ministerium hatte die Umsetzbarkeit und kommerzielle Nutzbarkeit als Ziele festgeschrieben. Die Ergebnisse aus dem GlycoRec Projekt werden für das ESYSTA System der Emperra GmbH berücksichtigt und integriert.
Die ESYSTA App ist kostenfrei erhältlich und kann im iOS App Store und auf Google Play heruntergeladen werden. Aktuell werden Aktivitäten durchgeführt, um Komponenten vom GlycoRec Projekt in das ESYSTA System zu integrieren. Dies bietet die Möglichkeit, fundiertes Wissen in kompakter Form, teils genau auf den Patienten abgestimmt und durch medizinisches Personal geprüft, darzustellen. Zukünftig sollen Therapie und Wissen im System gebündelt werden und damit den Einstieg wie den Umgang im Alltag erleichtern.
Projektpartner
Das Konsortium des GlycoRec-Projektes bestand aus Universitäten und Forschungseinrichtungen mit Hintergrund in der Benutzermodellierung (PFH, OTH, LUH), einer interdisziplinäre Forschungseinrichtung die molekulare und zellbiologische Grundlagenforschung mit klinischen und epidemiologischen Forschungsansätzen auf dem Gebiet Diabetes vernetzt (DDZ), sowie aus einem forschungs- und entwicklungsgetriebenen Medizintechnik-Unternehmen mit höchst innovativen Ansätzen und Lösungen in E-Health Technologies und Telediabetologie (Emperra).
Projektteam
Partner für GlycoRec (v.l.n.r.): Arne Sonar, Diana Scharf, Prof. Dr.-Ing. Dominikus Heckmann (OTH Amberg-Weiden), Ilonka Wolpert (Emperra), Dr. Olaf Spörkel (DDZ), Tamara Graf (OTH), Jennifer Sabernak (Emperra), Dr. Eelco Herder (L3S), Prof. Dr. Karsten Müssig (DDZ), Matthias Selisky (PFH), Laura Dauben (DDZ), Jan Raacke, Isabel Teichman und Prof. Dr. Stephan Weibelzahl (PFH). Nicht im Bild sind Dr. med. Janko Schildt, Dr. med. Markus Bentrup (beide Emperra), Dr. theol. Bernhard Bleyer (OTH) und Tu Ngoc Nguyen (L3S).
Weibelzahl, S., Herder, E., Rokicki, M., Heckmann, D., Müssig, K. & Schildt, J., (2015). Personalized Advice and Feedback for Diabetes Patients. In: Weisbecker, A., Burmester, M. & Schmidt, A. (Eds.), Mensch und Computer 2015 – Workshopband. Berlin: De Gruyter Oldenbourg. (pp. 305-312).
Weibelzahl, S., Heckmann, D., Herder, E., Müssig, K. & Schildt, J. (2015). Adaptive Recommendations for Patients with Diabetes. In: A. Cristea, J. Masthoff, A. Said & N. Tintarev. Extended Proceedings of the 23rd Conference on User Modeling, Adaptation, and Personalization (UMAP 2015), Dublin, Ireland, June 29 - July 3, 2015.
Rokicki, M., Herder, E. & Demidova, E. What's On My Plate: Towards Recommending Recipe Variations for Diabetes Patients. Extended Proceedings of the 23rd Conference on User Modeling, Adaptation, and Personalization (UMAP 2015), Dublin, Ireland, June 29 - July 3, 2015.
Markus Rokicki, Eelco Herder, Tomasz Kusmierczyk and Christoph Trattner. Plate and Prejudice: Gender Differences in Online Recipes. Proc. UMAP 2016.
Hao Cheng, Markus Rokicki, Eelco Herder. “The influence of city size on dietary choices and food recommendation.” Proc. UMAP 2017.
Hao Cheng, Markus Rokicki, Eelco Herder. “The influence of city size on dietary choices.” Adj. Proc. UMAP 2017.
Christoph Trattner, Markus Rokicki, Eelco Herder. “On the Relations Between Cooking Interests, Hobbies and Nutritional Values of Online Recipes: Implications for Health-Aware Recipe Recommender Systems.” Adj. Proc. UMAP 2017.
Markus Rokicki, Eelco Herder, Christoph Trattner. “How Editorial, Temporal and social Biases Affect Online Food Popularity and Appreciation.” Proc. ICWSM 2017.
Sonar, A. / Bleyer. B. / Heckmann, D. (2017): Zur Synergie von reflexiver Technikbewertung und E(L)SA-Begleitforschung - Eine Bewertungstheorie sozio-technischer Systemgefüge im Rahmen der Digitalisierung. In: Seffer, K. / Kinateder, E. (Eds.): Bavarian Journal of Applied Science. No.3, Dez. 2017/Jan. 2018, S. 250-262.
Markus Rokicki, Eelco Herder, Christoph Trattner. “The Impact of Recipe Features, Social Cues and Demographics on Estimating the Healthiness of Online Recipes.“ Proc. ICWSM 2018.
List, S. (2018). Möglichkeiten der Steigerung der Adhärenz im Diabetesmanagement bei Erwachsenen am Beispiel eines interaktiven app-basierten Interventionssystems. Unveröffentlichte Projektarbeit, PFH Göttingen
Tu Ngoc Nguyen, Markus Rokicki. "On the Predictability of non-CGM Diabetes Data for Personalized Recommendation." In Proceedings of CIKM 2018 Workshops.
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